Martin Kippenberger

Martin Kippenberger Organische Architektur in Ungarn 1984 Detail
Martin Kippenberger: Organische Architektur in Ungarn, Detail. ©Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne, Foto: Archiv Sammlung LBBW

Werke in der Sammlung

Bereits während seines Kunststudiums hat Martin Kippenberger die für ihn bemerkenswerten Aspekte des öffentlichen Raums fotografisch festgehalten und sich auch auf die Spur dysfunktionaler Räume begeben. Ab Mitte der 1980er Jahre kehren Architektur und öffentlicher Raum als soziale Orte der Gesellschaft im Werk Kippenbergers, fragend nach Sinn und Funktion, in unterschiedlicher Ausprägung erneut wieder. Die zwei Malereien Kippenbergers, „From the Misery to the Authority“ und „Organische Architektur in Ungarn“, sind eingängige Werkbeispiele dieser künstlerischen Auseinandersetzung. „From the Misery to the Authority” stellt einen ovalen Gebäudekorpus dar, der mittig von einem Turm dominiert wird. Die Anlage ähnelt einem Panoptikum, das der britische Philosoph und Begründer des Utilitarismus, Jeremy Bentham, zu Ende des 18. Jahrhunderts als ideales Raumkonzept zum Bau von Gefängnissen entwickelte, um möglichst viele Menschen prinzipiell von nur einem Überwachenden kontrollieren zu lassen. Der Bildtitel verweist auf die disziplinarische Ordnung, die das Gebäude selbst verkörpert: „Vom Elend zur Autorität“ – und wieder zurück, könnte man ergänzen, besitzt die Anlage mit ihrer ovalen Bahn ebenso Stadioncharakter, in der das Laufen im Kreis observiert werden kann..

Martin Kippenberger From the Misery to the Authority 1985
Martin Kippenberger: From the Misery to the Authority, 1985. ©Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne, Foto: Volker Naumann

Auch das Werk „Organische Architektur in Ungarn“ transportiert einen pointiert sozialpolitischen Kommentar. Gegenstand der Malerei ist ein plastischer Gebäudekomplex, der sich von einem kubischen Vorbau ausgehend leicht hügelig geschwungen gegen den Himmel erhebt und in dessen weißgrau gespachtelter Fläche rechts zwei grob skizzierte Vögel fliegen. Damit ist von Kippenberger das Konzept einer ‚organischen Architektur‘ malerisch umrissen, welche auf die seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Architekturtheorie aufkommende Norm verweist, eine Harmonie zwischen Gebäuden und Natur zu erzielen. So sollte aus den Baumaterialien selbst eine ihnen gemäße, natürliche und lebendige Form entwickelt und dabei die soziale Rolle, die das Gebäude erfüllt, in einer universalen Gesamtheit positiv erfahrbar werden. Dass ausgerechnet im kommunistischen Ungarn allein mit dem anthroposophisch orientierten Architekten Imre Macovecz, einem der prominentesten dortigen Vertreter, rund 200 Gebäude zwischen 1959 und 1989 geplant und an vielen Orten realisiert werden, ist ein Widerspruch in sich. Denn wie sollte harmonisches Erleben und spirituelle Erkenntnis im Sinne einer anthroposophisch geprägten, organischen Architektur in einem repressiven Staat tatsächlich möglich sein, wenn sich die Staatsdoktrin mit diesem idealistischen Baukonzept lediglich camoufliert? Kippenbergers Beschäftigung mit den sozialen und politischen Kontexten von Architektur und ihren Konnotationen münden schließlich 1988 in sein Künstlerbuch namens „Psychobuildings“, das mit insgesamt 114 Schwarzweiß-Fotografien einen ersten Zwischenstand resümiert.

Martin Kippenberger Organische Architektur in Ungarn 1984
Martin Kippenberger: Organische Architektur in Ungarn, 1984. ©Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne, Foto: Archiv Sammlung LBBW

Die malerischen Reflexionen Martin Kippenbergers weisen auch einen seit etwa Mitte der 1980er Jahre praktizierten Gebrauch von unkonventionellen Malmitteln auf, wie Gummi oder Silikonpaste, mit der er seine Gemälde rein formal akzentuiert oder sie mittels der Paste mit Leitsprüchen zusätzlich beschreibt. Auch signiert er, wie die beiden Architekturbilder der Sammlung LBBW, vielfach mit Silikon. Neben diese unkonventionellen Gestaltungsmittel kommt um 1990, während Kippenbergers Aufenthalt in Los Angeles, zusätzlich Latex als Material hinzu. Werden bemalte Leinwände zunächst lediglich mit einer Latexhülle kondomgleich überzogen, vollzieht sich daraus ab 1991 ein weiterer Schritt und führt zu der rund 50 Arbeiten umfassenden Werkgruppe der „Gummibilder“. Diese komplexen Bildobjekte aus pigmentiertem Naturkautschuk in Hellbeige, Schwarz oder Grau kennzeichnet ein deutliches Oberflächenrelief, das teilweise um herauskragende, plastische Elemente ergänzt wird. So findet sich auf der Oberfläche von „Ohne Titel“ (1991) neben zahlreichen Händen und Noppen, einem Bierkrug und einem Schwarm von Rechtecken, der über die Fläche verteilte, eingekritzelte Satz „Don’t call me, I call you“. Abgesetzt davon, am linken unteren Bildrand, zeichnet sich zudem ein nicht weiter zu entschlüsselndes „XO“ schräg oberhalb eines kleinen Beutels ab, der wie eine auf links gedrehte Innentasche wirkt.

Martin Kippenberger Ohne Titel 1991
Martin Kippenberger: Ohne Titel, 1991. ©Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne, Foto: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne

„Die Ironie besteht darin, im Scherz das Gegenteil von dem zu sagen, was man denkt, oder von dem, was man denken machen will“, lautet nach dem französischen Grammatikspezialisten Pierre Fontanier eine frühe Definition dieses Stilmittels, das in Kippenbergers Werk und Satz zum Tragen kommt. Denn der flotte Spruch meint konkret nicht den Wunsch nach einem weiteren Gespräch, sondern bedeutet blanke Ironie. Die aus dem Bildschlitz hervortretende Faust wirkt wehrhaft, hingegen vermittelt die aus dem Schlitz sich windende, schlapp bis zum Boden reichende Laterne genau das Gegenteil. Faust wie Laterne sind Sinnbilder, mit welchen Kippenberger die Gesamtikonografie der Arbeit mit Hinweisen auf sein Werk und sich selbst auflädt. Die gereckte, geballte Faust findet in der politischen Ikonografie der Arbeiterbewegung ihre erste Anwendung und ist von Kippenberger als Motivelement zum Zeitpunkt 1991 im Werk bereits eingeführt. Anders die Laterne, der erst Kippenberger eine kunstwissenschaftliche Bedeutung verleiht, da er sie als den letzten Halt des Betrunkenen inszeniert und ihr sogar unter dem Titel „Mensch, geht mir ein Licht auf. Gut ausgeleuchtete vorweihnachtliche Ausstellung an der Leopoldstraße“ 1992 eine eigene Ausstellung widmet. Mit Blick auf das gesamte Œuvre Kippenbergers erscheint die Laterne wie ein Eigenzitat des Künstlers, so häufig tritt sie auf.

In der Sammlung LBBW befinden sich zudem einige „Hotelbriefzeichnungen“ Martin Kippenbergers, die gleichsam ein eigenes Werk im Werk darstellen und seit 1986, begonnen auf den Quittungen des „Othon Hotels“ in Salvador, ausgeführt werden. Auf diesen ersten Zeichnungen hält der Künstler Grundrisse von seinen Wohnungen, Hotels und Ateliers fest. Die Motivwelt der „Hotelbriefzeichnungen“ erweitert sich im Laufe des Schaffens um Rückgriffe auf bereits gefertigte Skulpturen, Gemäldeserien oder gedruckte Einladungskarten. Dabei täuschen die aus allen möglichen Ecken der Welt stammenden Briefpapiere vor, der Künstler sei viel unterwegs und weit gereist, indessen sammelt und bringt auch der Freundeskreis die Briefpapiere für ihn mit. Die Zeichnung „Ohne Titel (Hotel Robert Mayer)“ ist ein Rückgriff auf die Gemäldeserie „Hand Painted Pictures“ und somit die Wiederverwertung seines Selbstporträts als Läufer bereit zum Start.

Martin Kippenberger Ohne Titel (Hotel Robert Mayer) 1995
Martin Kippenberger: Ohne Titel (Hotel Robert Mayer), 1995. ©Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne, Foto: Archiv Sammlung LBBW

Bereits mit seinem ersten, 1976 gemalten Malereizyklus mit dem Titel „Uno di voi, un tedesco in Firenze“ greift Martin Kippenberger die für sein Werk wiederholt bestimmende Frage der Bildwürdigkeit von Motiven und Darstellungsweisen auf, die in den Jahrhunderten der Kunstgeschichte schon immer diskutiert wurde. Kippenberger nimmt seinen Aufenthalt in Florenz zum Anlass, auf zahlreichen Leinwänden im konsequent durchgehaltenen Format 60 x 50 cm Porträts, Tellergerichte auf karierten Tischdecken, Straßenansichten, Schaufensterbeleuchtungen, Interieurs mit Deckenlampen und weitere aus dem Alltag oder von Postkarten gewonnene Sujets in abgestuften Grauwerten festzuhalten. Im Gegensatz zu Gerhard Richters „48 Porträts“, die der Künstler für den deutschen Pavillon 1972 zur Biennale in Venedig fertigt und für Kippenberger die Vorlage gibt, zeigen Kippenbergers Leinwände nicht nur männliche Persönlichkeiten der Geschichte. Siehaben weder einen homogenen Farbauftrag noch weichgezeichnete Unschärfe. Stattdessen sind die Sujets in teilweise dick pastosen, harten Helldunkel-Kontrasten wiedergegeben und vermitteln auch den Eindruck, ab und an sehr schnell gemalt worden zu sein. Mit Kippenbergers Werk erweitert sich damit die klassische Genremalerei um Motive des banal Alltäglichen und Trivialen, die mit den Stilmitteln der Ironie oder Persiflage auf das gemeinhin etablierte Selbstbild der Gesellschaft zielen.

Vita

Martin Kippenberger (1953–1997): Geboren in Dortmund, aufgewachsen in Essen. Die Familie besucht sehr regelmäßig das dortige Folkwang Museum. 1962 bis 1968 Schulausbildung im Schwarzwald und im Westerwald. 1972 bis 1976 Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg bei Rudolf Hausner und Franz Erhard Walther. 1976 Umzug nach Florenz, 1977 Rückkehr nach Hamburg, Bekanntschaft mit Werner Büttner und den Brüdern Albert und Markus Oehlen. 1978 Umzug nach Berlin, Eröffnung von „Kippenbergers Büro“ mit Gisela Capitain, Organisation von Ausstellungen, Lesungen, Filmvorführungen und Konzerten. Mitinhaber des Kreuzbergers Clubs „S.O. 36“, Gestaltung und Mitwirkung am Programm des Clubs. 1979 bis 1980 Reisen durch die USA und Hawaii, Rückkehr nach Berlin, Aufenthalt in Paris. 1981 Rückzug aus Berlin. Nach mehreren Wochen in der Toskana folgt der erste von zahlreichen Aufenthalten in St. Georgen, Schwarzwald, bei der Sammlerfamilie Grässlin. 1982 erste Einzelausstellung im Kunstforum Rottweil, 1984 erste große Gemeinschaftsausstellung „Wahrheit ist Arbeit“ mit Albert Oehlen und Werner Büttner im Museum Folkwang, Essen. 1985 erste Einzelausstellung in den USA bei Metro Pictures, New York. 1986 erste museale Einzelausstellung „Miete – Strom – Gas“ im Hessischen Landesmuseum, Darmstadt. 1990 Gastprofessur an der Städelschule Frankfurt. 1991 Einzelausstellung im San Francisco Museum of Modern Art. 1991/1992 Professor der „Erfreulichen Klasse Kippenberger“ an der Gesamthochschule Kassel, erstes Großprojekt im öffentlichen Raum mit schwarzen „Latexbildern“ für die Wiener Festwochen. Erster von weiteren Aufenthalten auf der griechischen Insel Syros, dort 1993 Gründung des MOMAS (Museum of Modern Art Syros) in einem überdachten, wandlosen Rohbaugerippe aus Beton. 1993 Einzelausstellung im Centre Georges Pompidou, Paris. Installation der ersten „Metro-Net“ Eingangsattrappe auf Syros. Die Beschäftigung mit dem unvollendeten Roman „Amerika“ von Franz Kafka führt 1994 zur ersten Präsentation von „The Happy End of Franz Kafkas ‚Amerika‘“ im Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam. Parallel Beschäftigung mit dem Thema „Schrebergarten“. 1995 nach Aufenthalt in Tokio Umzug ins Burgenland, Österreich. 1996 Beginn der Werkgruppe „Eier-Bilder“ sowie dem thematischen Zyklus „Das Floß der Medusa“ nach Géricault. 1997 eröffnet Kippenberger zu Lebzeiten seine letzten zwei musealen Einzelausstellungen im Musée d’art moderne et contemporain, Genf, und im Museum Abteiberg, Mönchengladbach.