Die mangelhaft entwickelte Digitalisierung der Bundesrepublik wird nach Ansicht des LBBW Research die Herkulesaufgabe der kommenden Bundesregierung werden. „Das 21. Jahrhundert hat erst 2020 mit der Corona-Krise wirklich begonnen. Je digitaler die einzelnen Staaten aufgestellt waren, desto besser konnten sie tendenziell die Krise bewältigen. Bei uns hat die Krise gnadenlos die Defizite in Sachen Digitalisierung aufgezeigt – insbesondere in der öffentlichen Verwaltung und der Bildung“, erklärt Analyst Guido Zimmermann.
Im internationalen Vergleich schneide das Land bei der Digitalisierung bestenfalls durchwachsen ab, urteilt der Analyst in einer Studie, in der er sich vor der Bundestagswahl mit dem Stand der Digitalisierung Deutschlands beschäftigt. Laut IMD Digital Competitiveness Index 2021 ist das Land von Platz 15 im Jahr 2016 auf Platz 18 abgerutscht.
Bedenklich sei, wie stark wir alle die Geschwindigkeit der digitalen Transformationen in allen Branchen und Lebensbereichen weiterhin unterschätzten. Dies gilt im Kleinen bei den Veränderungen im Job. Vor allem aber bei den faktisch globalen digitalen Industriestandards und der digitalen Souveränität des Staates.
Die digitale Rückständigkeit kenne viele Gesichter, urteilt Zimmermann. Der Mangel an IT-Fachkräften sei groß und werde nicht ernsthaft genug bekämpft. Auch bei der Öffentlichen Hand liege noch sehr viel im Argen. Zu viele Anträge müssten noch immer per Hand im Amt ausgefüllt werden, habe insbesondere die Corona-Pandemie schmerzhaft gezeigt. Beim EU-weiten Vergleich der Verwaltungen für den Digital European Society Index schafft es Deutschland damit lediglich vor die südosteuropäischen Mitgliedsländer.
Netzbetreiber geben beim ultra-schnellen Internet Gas
Anzeichen der Besserung sieht der Digitalisierungsexperte bei der Datenübermittlung. Den Ausbau der Netze gingen die Netzbetreiber inzwischen deutlich schneller an als noch vor wenigen Jahren.
Um aber eine nachhaltige Verbesserung im Digitalisierungsgrad der Volkswirtschaft zu erreichen, benötigt Deutschland eine konsistente Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung, betont Zimmermann: „Im 20. Jahrhundert hatten wir ein Post- und Telekomministerium. Im 21. Jahrhundert brauchen wir ein Digitalministerium, dass diese Strategie entwickelt und bestehende Digitalinitiativen bündelt.“
Die bescheidenen Erfolge bisheriger Bundesregierungen bei der Modernisierung des Landes zeigten aber, dass ein erfolgreicher Ausbau der Digitalisierung vor allem auch der Privatwirtschaft abhänge. Hier müsse die kommende Regierung Raum schaffen. Ohne wirtschaftliche Freiheit dürfte es Deutschland weiter schwer haben, digitale Start-ups und digitale Innovationen zu fördern sowie die notwendigen IT-Fachkräfte aus dem Ausland anzulocken.
Um international aufzuschließen, benötige das Land gleichermaßen ausländische Computerexperten und einheimische Fachkräfte, betont Zimmermann. Entsprechend wichtig sei in deutschen Schulen, Berufsschulen und Hochschulen der rasche Ausbau der digitalen Infrastruktur und der digitalen Pädagogik. „Für einen ressourcenarmen Standort wie Deutschland ist ein hoher digitaler Bildungsgrad der Bevölkerung essenziell. Digitalisierung basiert maßgeblich auf den MINT-Fächern. Hier muss Deutschland aufholen.“
Zimmermann fordert von der neuen Bundesregierung und der Bevölkerung gleichermaßen eine Bewusstseinsänderung. „Deutschland muss aus dem ‚Analog-Modus‘ herauskommen und digital denken. Das bedeutet aber nicht die ,PDF-isierung‘ von Papierprozessen, sondern die Kreativität, digitale Dienst¬leistungen rund um die Produktion von physischen Gütern zu erstellen.“ Nicht umsonst spreche man erst dann von Industrie 4.0, wenn mehr als die Hälfte des Umsatzes eines Unternehmens durch digitale Dienstleistungen generiert werde.