11.03.2025

Ein Kessel Buntes: Das Ergebnis der Sondierungsgespräche

Research Studie

Deutschland Reichstag mit Flagge
Deutschland Reichstag mit Flagge

In aller Kürze

  • Die Reform der Schuldenbremse wird konkret.
  • Wichtige Details bei der Ausgestaltung des Sondervermögens fehlen aber noch.
  • Die Wachstumswirkung der vorgesehenen Maßnahmen lässt sich noch nicht abschätzen.

Nun liegen sie also vor, die Ergebnisse der Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD. Die Lektüre macht klar, dass es in den Koalitionsverhandlungen noch viel zu diskutieren geben wird. So manches ist noch in ungefährer „Wahlprogrammsprache“ gehalten und nicht viel mehr als eine Absichtserklärung.

Aber immerhin. Es ging schnell, und die handelnden Personen haben durch das an den Tag gelegte Tempo eindrucksvoll belegt, dass sie sich der Verantwortung voll bewusst sind, dass Deutschland im Herzen Europas angesichts all der globalen Unsicherheit so schnell wie möglich eine handlungsfähige Regierung benötigt. Dafür verdienen beide Parteien Anerkennung.

Es ist nicht ausgemacht, dass es gelingen wird, noch vor der Konstituierung des neuen Bundestages die Verfassung zu ändern, um die Verschuldungspotenziale für Verteidigung und Investitionen ausweiten zu können. Die Grünen haben klar gemacht, dass Union und SPD ihre Zustimmung nicht ohne Weiteres voraussetzen dürfen. Vermutlich wird es in den kommenden Tagen zu frenetischen trilateralen Nachverhandlungen kommen, unter anderem über die Rolle von Investitionen in den Klimaschutz und die Verteilung der Verschuldungspotenziale zwischen Bund, Ländern und Gemeinden.

500 Milliarden EUR

als Sondervermögen sollen geschaffen werden.

Neue Schulden für Verteidigung und Infrastruktur

Das Kernstück der Vereinbarung stellt natürlich die radikale Kehrtwende bei der Fiskalpolitik dar. Bei den Staatsschulden will die geplante Koalition bis auf weiteres den Fuß von der Schuldenbremse nehmen und stattdessen Gas geben. Sie will ein Sondervermögen von mehr als 500 Milliarden Euro über 10 Jahre schaffen – also gut 1 % des BIP pro Jahr zusätzlich für Investitionen in die öffentliche Infrastruktur ausgeben. Von der Größenordnung her erscheint das in Anbetracht des Investitionsrückstaus keineswegs überzogen. Tatsächlich hatte ich selbst eine höhere Summe für angemessen gehalten. Denn nach mehr als einem Vierteljahrhundert mit öffentlichen Investitionen, die im Schnitt über 1 % des deutschen BIP unter dem Niveau des europäischen Durchschnitts lagen, ist sehr viel liegengeblieben.

Das Sondervermögen für Infrastruktur begrüße ich wie die meisten Ökonomen. Aber die Koalitionäre müssen noch ein wenig nachschärfen. Meine Sorge gilt vor allem der Additionalität der Investitionen. Mit anderen Worten: Wie lässt sich die Gefahr bannen, dass in dem Moment, in dem es ein Sondervermögen für Investitionen gibt, die Gebietskörperschaften ihre bisherigen investiven Ausgaben zurückfahren, um Geld für politisch attraktivere konsumtive Ausgaben freizuschaufeln? Im Ergebnis würden die Staatsausgaben zwar steigen, die öffentlichen Investitionen aber nur geringfügig oder sogar gar nicht. Es wäre also zwingend festzuschreiben, dass die Kreditaufnahme über die Sondervermögen nur für Investitionen erlaubt ist, die über das bereits heute budgetierte Niveau hinausgehen.

Und während es zu begrüßen ist, dass der Staat mehr investieren möchte, ist die Bereitstellung von finanziellen Ressourcen nicht allein selig machend. Denn es war ja nicht die Schuldenbremse allein, die zu den niedrigen staatlichen Kapitalausgaben in Deutschland beigetragen hat. Ab 2014 hatte Deutschland eine ganze Reihe von Jahren mit Haushaltsüberschüssen. Geld für mehr Investitionen wäre also schuldenbremsenkonform da gewesen. Und jedes Jahr bleiben nicht verausgabte Mittel im Investitionsbudget übrig. Der Grund liegt in den übermäßig komplexen Planungs- und Genehmigungsverfahren. Wenn es ihr nicht gelingt, sie zu verschlanken, dürfte die kommende Regierung die zusätzlichen finanziellen Ressourcen im wahrsten Sinne des Wortes kaum auf die Straße bekommen. Auch hier muss die Koalition in spe handeln, damit die Investitionen auch wirklich fließen können.

Der zweite große fiskalpolitische Brocken ist die weitgehende Ausnahme der Ausgaben für die Verteidigung von der Schuldenbremse. Alle Verteidigungsausgaben, die über 1 % des BIP hinausgehen, sollen künftig nicht mehr durch die Schuldenbremse beschränkt sein. Hier gibt es von meiner Seite zwei kritische Anmerkungen.

  • Einerseits ist es fragwürdig, konsumtive Ausgaben wie für die Verteidigung über Kredite zu finanzieren. Denn anders als bei Investitionen in die Infrastruktur lösen militärische Ausgaben keine angebotsseitigen positiven Wachstumseffekte aus. Mithin werfen sie keine finanziellen Erträge ab, mit deren Hilfe sich der Schuldendienst absichern ließe. Verteidigung ist des halb aus den laufenden Einnahmen zu tätigen.
  • Andererseits ist die Einprozentgrenze fragwürdig, ab der die Schuldenbremse ausgesetzt werden soll. Denn tatsächlich belaufen sich die Ausgaben für Verteidigung ja schon heute auf etwa 2 % des BIP. Auch dort gilt also nicht das Prinzip der Additionalität. Wenn sich die Bundesregierung für alle Verteidigungsausgaben über 1 % des BIP nun verschulden dürfte, besteht auch an dieser Stelle die Gefahr, dass die so freiwerdenden Mittel aus dem laufenden Haushalt stattdessen in populäre konsumtive Ausgaben fließen.

Einsparungen müssen warten

Die Verhandlungsteams von Union und SPD verweisen zwar darauf, dass die Koalition „im Rahmen der Haushaltsberatungen auch Einsparungen vornehmen“ werde, aber das beschreibt ja nur, was Regierungen immer tun sollten. Die zusätzlichen ausgabewirksamen Versprechen im Sondierungspapier stehen nicht unter dem Vorbehalt, dass diese Einsparungen zuvor auch realisiert worden sind. Zu diesen (noch) nicht gegenfinanzierten Versprechungen zählen etwa die Reduzierung der Strompreise für Haushalte und Unternehmen, Steueranreize für längere Arbeitszeiten, der Ausbau der Mütterrente, Kaufanreize für E-Autos, die Agrardieselrückvergütung und eine dauerhafte Reduzierung der Mehrwertsteuer für die Gastronomie, von der aller Erfahrung nach nichts bei den Gästen ankommen wird.

Auch im Sondierungspapier scheint einmal mehr die Hoffnung durch, dass der Staat maßgebliche Summen zur Repriorisierung von Ausgaben generieren könnte, wenn er den „großangelegten Sozialleistungsmissbrauch“ reduziert. Diese Hoffnung wird sich vermutlich nicht erfüllen lassen. An die wirklich großen Ausgabenblöcke im System der sozialen Sicherung trauten sich die Verhandler erst gar nicht erkennbar heran: Rente, Gesundheit und Pflege.

Die Hoffnung auf Wachstum

Viel Hoffnung setzen Union und SPD in eine Stärkung des Wirtschaftswachstums. Das Potenzialwachstum soll wieder dauerhaft und „deutlich“ auf mehr als 1 % erhöht werden. Derzeit ist es allenfalls halb so hoch. Das LBBW Research hat vergangenes Jahr eine ausführliche Studie zu den Ursachen der deutschen Wachstumsschwäche vorgelegt. Demnach ist Deutschlands Wirtschaftsschwäche Ausdruck eines grundlegenden Strukturwandels.

Einige der Ursachen entziehen sich weitgehend der wirtschaftspolitischen Einflussnahme: Deglobalisierungstendenzen setzen der exportorientierten deutschen Wirtschaft aktuell am meisten zu. Der demografische Niedergang durch eine rasch alternde Gesellschaft wird sie künftig zunehmend schwächen.

Aber es gibt auch wachstumshemmende Faktoren, die sich durch zielgerichtete wirtschaftspolitische Weichenstellungen abmildern ließen. Dazu findet sich auch einiges im Sondierungspapier. Allerdings verlieren sich viele dieser Strukturreformen noch im Ungefähren und sind wenig mehr als fromme Absichtserklärungen. Einen maßgeblichen Fortschritt fassen die mutmaßlichen Koalitionäre, wie oben beschrieben, bei der Forcierung der öffentlichen Investitionen ins Auge. Es ist nur zu bedauern, dass es einer vorgezogenen Bundestagswahl bedurfte, um eine Mehrheit für die Reform der Schuldenbremse zu ermöglichen. Das gleiche Ergebnis wäre auch schon vor Jahren möglich gewesen. Durch das vorherige Taktieren ist unnötig Zeit verloren gegangen, die es nun dringend aufzuholen gilt.

Einen weiteren wichtigen Pflock wollen Union und SPD bei der Rückführung regulatorischer Hemmnisse und der damit einhergehenden bürokratischen Belastung einschlagen: In der kommenden Legislaturperiode sollen die Bürokratiekosten um 25 % sinken. Das wäre ein fantastischer Erfolg. Allein, auch hier dürfte der Teufel im Detail stecken. Die Parteien geben derzeit noch keine Hinweise darauf, in welchen Bereichen sie diese Effizienzgewinne vorrangig erreichen wollen. Da wartet in den Koalitionsverhandlungen noch viel Arbeit. Und, so steht zu vermuten, noch viel Konfliktstoff.

Positive Wachstumseffekte ließen sich mittelfristig auch durch die postulierten Bemühungen erzielen, Migranten besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren sowie deren Kinder in die Bildungssysteme. Beim Thema effektive Integration besteht in Deutschland im internationalen Vergleich noch erheblicher Aufholbedarf. Auch die Vereinfachung der Zuwanderung von Fachkräften könnte perspektivisch die Mitarbeiterknappheit reduzieren. Die Ampelkoalition hatte ja bereits Erleichterungen für die Fachkräftezuwanderung auf den Weg gebracht. Allerdings steht der Hoffnung auf einen Schub von qualifizierter Zuwanderung entgegen, dass Deutschland als Einwanderungsland in den vergangenen Jahren an Attraktivität eingebüßt hat. Es gilt also zunächst einmal, das zuletzt verlorene Terrain zurückzugewinnen. Ob ein Wahlkampf, bei dem es vorrangig darum ging, Migration als Problemfeld zu diskutieren, hilfreich war, darf bezweifelt werden.

Das Sondierungspapier signalisiert weiterhin Vorfahrt für Innovation und Digitalisierung. Das ist leicht gesagt und hingeschrieben. Sollte der Vorsatz in der Tat gelingen, wäre das ein großer Schritt nach vorn für Produktivität, Wachstum und Wohlstand. Aber sich etwas zu wünschen, bedeutet noch nicht, es auch zu erreichen. Auch hier bedarf es noch einer Konkretisierung, um abschätzen zu können, ob damit das angestrebte Potenzialwachstumsziel erreichbar wird.

Der Verdacht liegt nahe, dass die Verhandler der Versuchung erlegen sind, das Fell des Bären zu verteilen, bevor er erlegt wurde. Um die in Aussicht gestellten steuerlichen Erleichterungen und zusätzliche staatliche Leistungen zu finanzieren, braucht es ein dynamischeres Wachstum. Ob das erreichbar sein wird, zeigt sich frühestens, wenn die beiden Parteien im Koalitionsvertrag die geplanten Strukturreformen detailliert beschrieben haben. Vielleicht wird es ja doch noch der große wirtschaftspolitische Wurf. Aber derzeit sieht es nach dem üblichen Tauschhandel von Gefälligkeiten für die jeweilige Klientel aus. Zu deutlich ist jeweils die Handschrift einzelner Parteien bei den vorgeschlagenen Maßnahmen.

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