08.03.2024

Droht Deutschland die Deindustrialisierung?

Deutschland versteht sich als führender Industrie-Standort. Sind diese Zeiten bald vorbei? Die Gefahr ist real, warnt LBBW-Chefvolkswirt Dr. Moritz Kraemer.

Deindustrialisierung
Deindustrialisierung

Standpunkt: „Made in Germany“ ist ein weltweit anerkanntes Gütesiegel. Demnächst könnte daraus, so warnt der BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie), „Invented in Germany – made somewhere else“ werden. Sehen Sie dieselbe Gefahr?

Moritz Kraemer: Die Formulierung ist zwar überspitzt, aber: Da ist was dran. Deutschland liegt weltweit im Spitzenfeld, was Forschung und Entwicklung angeht. Doch wenn es darum geht, Neues erfolgreich auf den Markt zu bringen, stehen wir uns oft selbst im Wege. Wenn ich an den MP3-Player oder künstliches Insulin erinnern darf: „Invented in Germany“, aber anderswo zum wirtschaftlichen Erfolg geführt. Dasselbe sehen wir heute beispielsweise in der Raketentechnik, wo großartige Forschung in Deutschland stattfindet – aber mehr leider auch nicht.

18 %

zur Bruttowertschöpfung in Deutschland trägt die Industrie bei

Standpunkt: Und so bricht Deutschlands Industrie bröckchenweise weg?

Moritz Kraemer: Die Deindustrialisierung ist ein langfristiger Trend, der bereits vor Jahrzehnten als Folge unseres Wohlstands eingesetzt hat. Wenn wir Menschen mehr Geld zur Verfügung haben, wollen wir die Annehmlichkeiten des Lebens gern auch genießen. Wir verreisen, gehen essen oder ins Konzert – entsprechend wächst der Dienstleistungssektor. Die Industrie – oder „verarbeitendes Gewerbe“, wie es offiziell heißt – kommt derzeit nur noch auf 18 Prozent der Bruttowertschöpfung. Damit rangieren wir innerhalb der Europäischen Union übrigens ziemlich weit oben, Frankreich etwa liegt eher bei 10 Prozent. Auch in den USA liegt der Anteil der Industrie mit 11 Prozent deutlich unter dem deutschen Wert. Das zeigt: Volkswirtschaftlich ist der Trend zu mehr Dienstleistungen und weniger Industrie nicht unbedingt ein Problem.

Standpunkt: Wann also wird die zurückgehende Bedeutung der Industrie zum Problem?

Moritz Kraemer: Die Deindustrialisierung wird zu einer Gefahr, wenn der Strukturwandel zu schnell passiert. Genau diese Tendenz beobachten wir seit einigen Jahren und ja, diese Tendenz verstärkt sich und nimmt gerade so richtig an Fahrt auf. Denn am Industriesektor hängen ja nicht nur gute Jobs, sondern zahllose Dienstleister, die vom verarbeitenden Gewerbe abhängen.

Dr. Moritz Kraemer Chefvolkswirt und Leiter des Bereichs Research

Die Deindustrialisierung wird zu einer Gefahr, wenn der Strukturwandel zu schnell passiert. Genau diese Tendenz verstärkt sich und nimmt gerade so richtig an Fahrt auf.

Dr. Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW

Standpunkt: Was führt zur zunehmenden Deindustrialisierung – die hohen Energiepreise, die Deglobalisierung oder der Fachkräftemangel?

Moritz Kraemer: Alle drei Faktoren spielen eine Rolle. Dabei lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Die Energiepreise waren letztes Jahr ein riesiges Thema. Heute lässt sich sagen: Strom und Gas kosten wieder weniger als unmittelbar vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Für die chemische Industrie oder auch andere Sektoren mit hohem Energiebedarf ist das Problem damit aber nicht gelöst. Die Chemie-Unternehmen wissen: Wenn sie weiterhin in Deutschland bleiben, werden sie dauerhaft mit höheren Energiepreisen wirtschaften müssen als sie das in den 2010er-Jahren gewohnt waren. Nicht alle, das lässt sich jetzt schon absehen, werden bleiben. Einige werden beispielsweise Produktionsstätten in den USA aufbauen. Nicht nur, weil die Energiepreise niedriger sind: Sollte eine künftige US-Regierung wieder verstärkt auf Protektionismus setzen, ist es sinnvoll, bereits hinter der Zollmauer vor Ort zu sein. Mit derselben Logik der Deglobalisierung werden auch anderswo in der Welt neue Produktionsstätten aufgebaut.

Standpunkt: Bleibt der dritte Faktor, der Fachkräftemangel.

Moritz Kraemer: Der betrifft alle Branchen, nicht nur die Industrie. Aber natürlich fehlen Fachkräfte auch im verarbeitenden Gewerbe. Das liegt am demografischen Wandel, und der hat sich seit Jahrzehnten angekündigt. Ich verstehe bis heute nicht, warum da nichts gemacht wurde.

Es muss einfacher werden, in Deutschland unternehmerisch tätig zu werden und neue Produkte auf den Markt zu bringen. Der Genehmigungsslalom muss kürzer werden!

Dr. Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW

Standpunkt: Da wäre die Politik gefordert, ebenso wenn es um den Abbau von Bürokratie geht.

Moritz Kraemer: Tatsächlich ist der Würgegriff der Bürokratie das größte Problem, insbesondere im Mittelstand. Seine Kraft und Energie müssen in Aufgaben gesteckt werden, die mit dem eigentlichen Unternehmertum wenig zu tun haben. Aktuell zeigt sich, wie sich das Übermaß an Bürokratie auf deutsche Unternehmen auswirkt, nämlich mit Zurückhaltung bei Investitionen. Und mit Überlegungen, auf Standorte mit weniger bürokratischen Fesseln auszuweichen ...

Standpunkt: Kommt diese Botschaft an bei der Regierung?

Moritz Kraemer: Ja, diese Botschaft ist im politischen Berlin angekommen. Der Handlungsdruck steigt von Tag zu Tag. Die Regierung hat erkannt, dass jetzt etwas passieren muss. Deshalb bin ich recht optimistisch, dass tatsächlich etwas passieren wird. Vielleicht war das im Februar (vorerst) gekippte EU-Lieferkettengesetz ja schon so etwas wie die Hochwassermarke.

Standpunkt: Wie könnte die Politik die Unternehmen noch unterstützen? Die USA haben im vorigen Jahr mit dem IRA ein riesiges Subventions- und Förderprogramm angeworfen, etwas Vergleichbares auf EU-Ebene gibt es bis heute nicht.

Moritz Kraemer: Strategische Industriepolitik ist ein schwieriges Feld. Das beginnt schon mit der Frage, ob eher entlang großer Linien gehandelt werden soll – beispielsweise für Branchen, in denen sich Europa unabhängiger machen möchte. Oder ob einzelne Projekte subventioniert werden sollen, wie etwa Halbleiterfabriken in Ostdeutschland. Das Problem dabei: Der Staat kann beim Fördern nicht die Gewinner von den Verlierern trennen – das macht nachher der Markt.

Standpunkt: Was wären das für Leitlinien, an denen sich eine strategische Industriepolitik orientieren sollte?

Moritz Kraemer: Für die deutsche Industrie ist klar: So wie bisher können wir nicht weitermachen, dafür fehlen uns schlichtweg die Arbeitskräfte. Das ist offenbar schwer zu vermitteln. Wir Deutschen neigen dazu, das bewahren zu wollen, was wir haben und was uns erfolgreich gemacht hat. Im schlimmsten Fall führt das dazu, sich an Überkommenem festzuhalten. Genau das Gegenteil haben die USA mit dem IRA gemacht: Das war eine Rolle vorwärts, denn mit dem Geld werden Zukunftsindustrien unterstützt.

Standpunkt: Diese Zukunftsindustrien – ob sie Biotechnologie, Robotik oder Gaming heißen – sitzen nicht in Deutschland. Müssen wir uns einfach damit abfinden?

Moritz Kraemer: Davon sind wir weit entfernt. Es ist ja nicht so, dass wir komplett abgehängt wären. Wie gesagt: In Forschung und Entwicklung liegt Deutschland immer noch vorn. Die Probleme beginnen auf dem Weg von der Entwicklung zur Vermarktung. Und da sind wir wieder bei der Bürokratie: Es muss einfacher werden, in Deutschland unternehmerisch tätig zu werden und neue Produkte auf den Markt zu bringen. Der Genehmigungsslalom muss kürzer werden!

Standpunkt: Ließe sich damit die Deindustrialisierung aufhalten?

Moritz Kraemer: Deutschland wird auf absehbare Zeit einen starken Industriesektor behalten. Wir werden nicht entkernt. Aber wir müssen uns darauf vorbereiten, dass Unternehmen aus energieintensiven Branchen Deutschland zunehmend den Rücken kehren werden. Deshalb ist es um so wichtiger, den anderen Unternehmen das Wirtschaften in Deutschland zu erleichtern. Durch weniger Bürokratie. Durch eine verlässliche und solide Infrastruktur. Und nicht zuletzt durch bessere Ausbildung und gezielte Anwerbung von Fachkräften, die diese herausfordernden Aufgaben stemmen.