Mehr nachhaltige Lebensmittel im nationalen Alleingang?

Seit den Zeiten der Gurkenverordnung wird die Regulierungswut der Europäischen Union gegeißelt. Zumindest bei Nahrungsmitteln zu Unrecht.

Kleiner Apfelbaum auf einer Wiese
Kleiner Apfelbaum auf einer Wiese

Wie krumm darf die Gurke sein? Wer sich über die Regulierungswut der EU aufregen möchte, landet gern beim Krümmungsgrad der Salatgurke. Je zehn Zentimeter Länge dürfen Gurken der höchsten Güteklasse nicht stärker als einen Zentimeter gekrümmt sein, bestimmte die Verordnung 1677/88/EWG. Eingeführt wurde sie allerdings nicht von einer übergriffigen Politik, sondern auf Wunsch des Handels: Weniger gekrümmte Gurken lassen sich platzsparender lagern und transportieren. Das stimmt bis heute: Obwohl die Gurkenverordnung bereits seit 2009 abgeschafft ist, orientiert sich der Handel immer noch dran. Weil’s rentabler ist.

So sehr es dem Klischee widersprechen mag: Die Europäische Union agiert recht zurückhaltend mit Vorschriften, sobald es um Nahrungsmittel geht (einzig bei der Lebensmittelsicherheit macht sie eine Ausnahme), und lässt den 27 EU-Staaten ziemlich freie Hand für eigene Regeln und Gesetze. Diese Zurückhaltung ruft allerdings auch Kritik hervor, denn sie sorgt im europäischen Binnenmarkt immer wieder für Schieflagen.

Die Marktanteile an tierischen Lebensmitteln, die deutsche Erzeuger aufgeben, werden aufgesogen von den Kollegen im europäischen Ausland.

Bernhard Krüsken, Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands

Ein Beispiel aus Deutschland: Was passiert, wenn neue Gesetze mehr Tierwohl in den Ställen garantieren sollen? Die Tierhaltung wird teurer, wegen der Investitionen in die Ställe und weil die Tiere nicht mehr so schnell Fleisch ansetzen. Also steigen die Fleischpreise. Das wiederum freut die Konkurrenz jenseits der Grenzen. Sie kann, dem europäischen Binnenmarkt sei Dank, mit billigerem Fleisch auf den deutschen Markt kommen. „Die Marktanteile an tierischen Lebensmitteln, die deutsche Erzeuger aufgeben, werden aufgesogen von den Kollegen, insbesondere aus Spanien. Dort spielen die Diskussionen um Tierwohl keine große Rolle“, sagte Bernhard Krüsken, Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands, dem ZDF. Weil das Tierwohl derzeit ein deutsches und kein gesamteuropäisches Thema ist.

Tierwohl? Ja. Höhere Fleischpreise? Nein

Das wäre kein Problem, wäre den Deutschen das Tierwohl so wichtig, wie sie in Umfragen regelmäßig behaupten. Dann würden sie auch das teurere Fleisch kaufen – zur Freude der deutschen Landwirtinnen und Landwirte. „Die Realität ist leider eine andere: In Deutschland wird beim Einkauf zuerst auf den Preis geschaut“, sagt Kai Mönnekes, Sektorexperte der LBBW für Nahrungsmittel und Handel. Tierwohl hin oder her. Das Ausweichen auf billigere Importe lässt sich nur durch EU-weit einheitliche Vorgaben zum Tierwohl vermeiden.

Kai Mönnekes, Sektorexperte für Food and Retail

In Deutschland wird beim Einkauf zuerst auf den Preis geschaut.

Kai Mönnekes, Sektorexperte der LBBW für Nahrungsmittel und Handel

Wenn es um das Gemeinwohl geht – und dazu zählt das Aufhalten des Klimawandels –, kann die EU ihren Mitgliedern verbindliche Vorgaben machen. Ansonsten verhindert der europäische Binnenmarkt bewusst keine nationalen Alleingänge. Der staatliche Einfluss auf Qualität und Preis von Lebensmitteln sollte daher nicht unterschätzt werden. Doch an den größeren Stellschrauben drehen die Produzenten, der Handel und die Verbraucher mit ihren jeweils eigenen Interessen. Letztlich entscheidend sind die Verbraucherinnen und Verbraucher: Was sie nicht kaufen, wird vom Handel ausgemustert – und in der Folge auch nicht mehr produziert. „Langfristig kann tierwohlerzeugtes Fleisch nur ein Erfolg werden, wenn es auf die Preisbereitschaft der Verbraucher trifft“, sagt LBBW-Sektorexperte Kai Mönnekes.

Impulse kommen von der EU – über Bande

Wo also ansetzen, um etwas zu verändern, wenn die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht die Initiative ergreifen? Einen Ansatzpunkt bietet der Green Deal der Europäischen Union. Er will Europa bis 2050 in einen klimaneutralen Kontinent verwandelt wissen. Um dieses Ziel zu erreichen, kommen aus Brüssel immer neue Vorgaben, die häufig in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Diesen Weg – etwa bei der Reduktion von Kohlendioxid (CO2) – gehen die Unternehmen mit, schon weil sie es müssen. Größere Unternehmen müssen künftig Nachhaltigkeitsberichte nach den Vorgaben der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) abgeben. Damit sollen ihre Nachhaltigkeitsberichte ebenso vergleichbar werden, wie es bei Finanzberichten seit Jahrzehnten der Fall ist. Auch deshalb setzen Unternehmen der Lebensmittelbranche verstärkt auf regionale Produkte, verlagern Transporte auf die Schiene oder nutzen Strom aus erneuerbaren Quellen. Entsprechende Investitionen werden durch staatliche Fördermittel unterstützt.

Wenn sie sich rechtzeitig auf wandelnde Wünsche der Verbraucherinnen und Verbraucher einstellen wollen, brauchen gerade Landwirtinnen und Landwirte eine gewisse Investitionssicherheit, auch auf nationaler Ebene. Die fehlt allerdings, solange aus Brüssel und Berlin keine eindeutigen Signale zu hören sind. Diesen Stillstand kann am ehesten die Europäische Union aufbrechen, sagt Kai Mönnekes. Der LBBW-Sektorexperte wünscht sich von den Mitgliedern der EU ein verlässliches und aufeinander abgestimmtes Vorgehen. Denn die Gewohnheiten der Verbraucherinnen und Verbraucher ändern sich überall in Europa. „Die Schwerpunkte sind unterschiedlich“, sagt Mönnekes, „aber die Herausforderungen müssen wir gemeinsam – europäisch – angehen.“