25.07.2024

Frankreich müsste sparen – und wird das Gegenteil tun

Unser Nachbarland verschärft damit die Gefahr einer Eurokrise, sagt LBBW-Chefvolkswirt Dr. Moritz Kraemer.

Der Eiffelturm in Frankreich
Der Eiffelturm in Frankreich

Standpunkt: Frankreich ist bis über beide Ohren verschuldet: Die EU-Kommission bereitet ein Defizitverfahren vor. Das Land müsste sparen, stattdessen versuchen sich die französischen Parteien auch nach den Parlamentswahlen mit Vorhaben zu profilieren, die die Staatsverschuldung weiter in die Höhe treiben würden. Wie gefährlich ist die Situation für die Zukunft der Europäischen Union?

Moritz Kraemer: Die öffentlichen Finanzen in Frankreich sind tatsächlich ein Desaster. Obwohl es keine Notlage gab, nicht mal eine Rezession, verbuchte Frankreich im vergangenen Jahr eine Haushaltslücke von 5,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, des BIP. Die Obergrenze für Staatsverschuldungen, so will es die EU, liegt bei 60 Prozent des BIP. Die Franzosen sind schon bei 111 Prozent angekommen.

Standpunkt: Frankreich müsste also eigentlich energisch sparen?

Moritz Kraemer: Rund 57 Prozent des Sozialprodukts in Frankreich sind Staatsausgaben, gegenüber 48 Prozent in Deutschland. Das wäre der Hebel, um effektiv zu sparen. Dazu bräuchte es allerdings eine Regierung, die diesen Auftrag ernst nimmt und Tacheles redet. Die wird es in Frankreich nach dieser Parlamentswahl nicht geben, dafür sind die Mehrheitsverhältnisse zu unübersichtlich. Bei der Regierungsbildung wird es gesichtswahrende Kuhhandel geben – und die fiskalische Diarrhoe geht weiter.

Dr. Moritz Kraemer Chefvolkswirt und Leiter des Bereichs Research

Kommt es zu einem politischen Schock, ist Frankreich nicht mehr handlungsfähig.

Dr. Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW

Standpunkt: Bislang hat die EU insgesamt solch immense Staatsverschuldungen doch recht elegant abgefedert.

Moritz Kraemer: Es sind eher die Märkte, die dieses Problem abfedern. Solange sie weiterhin unverdrossen Staatsanleihen aus Frankreich und Italien kaufen – dort beträgt die Staatsverschuldung sogar 138 Prozent des BIP –, stabilisieren sie diese Länder finanziell.

Standpunkt: Was könnte die Märkte davon abhalten, weiterhin französische Staatsanleihen zu kaufen?

Moritz Kraemer: In der derzeitigen Situation reicht dafür ein gar nicht mal so gravierender politischer Schock aus, etwa die Rücknahme der 2023 eingeführten Rentenreform. Sie entlastet die öffentlichen Kassen und ist, zumindest aus deutscher Sicht, inhaltlich harmlos: Schrittweise wird das Rentenalter von 62 auf 64 Jahre angehoben. Gegen diese Rentenreform gab es monatelange und teils gewaltsame Proteste. Sowohl die Linken als auch die Rechten sind bei den französischen Parlamentswahlen im Juni mit der Aussage angetreten, die Rentenreform zurückdrehen zu wollen.

Standpunkt: Ist es denn realistisch, dass die Rentenreform zurückgedreht wird?

Moritz Kraemer: Dafür müssten die Linken und die Rechten zusammen stimmen – und zum Glück hassen sie einander mehr als die Rentenreform. Trotzdem zeigt dieses Beispiel: Sobald die Menschen in Frankreich das Gefühl haben, ihnen wird etwas an staatlichen Wohltaten weggenommen, formiert sich Protest. Stichwort: Gelbwesten. Umso wichtiger war, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Rentenreform durchgezogen hat. Das war mutig und hat den Märkten signalisiert: Hier bewegt sich noch etwas.

Standpunkt: Demnächst wird sich eher wenig bewegen …

Moritz Kraemer: Im August ist ganz Frankreich im Urlaub und für die einzige Bewegung sorgen die Olympischen Spiele. Aber mal ernsthaft: Kommt es zu einem politischen Schock, ist Frankreich nicht mehr handlungsfähig. Die Zinsen für die aufgenommenen Schulden steigen, ebenso die Kosten für den demografischen Wandel. Auch mit einem Rentenalter von 64 Jahren werden die Kosten für Pensionen steigen, weil die zahlenstarke Boomer-Generation jetzt in Rente geht. Das alles treibt, wenn nicht gegengesteuert wird, die Staatsverschuldung weiter in die Höhe.

Standpunkt: Welche Folgen hat es, wenn Frankreich nicht mehr handlungsfähig sein sollte?

Moritz Kraemer: Die Folgen betreffen die gesamte Europäische Union. In solch einer Situation ist die EZB, die Europäische Zentralbank, mit ihrem Rettungskasten gefordert. Dann ist die Zeit reif für das Transmission Protection Instrument.

Standpunkt: Was ist das Transmission Protection Instrument?

Moritz Kraemer: Das Transmission Protection Instrument, kurz TPI, ermächtigt die EZB, Staatsanleihen einzelner Euroländer aufzukaufen, um die Kreditzinsen dieser Anleihen zu senken. Eine Grenze dafür, wie viel Staatsanleihen gekauft werden müssen, gibt es nicht. Das Problem beim TPI: Müssen unbegrenzt französische – oder auch italienische – Staatsanleihen aufgekauft werden, könnte der gesamte Euroraum in eine Schuldenkrise gezogen werden.

Wenn weiter so gewurschtelt wird, rutschen wir tatsächlich in eine Eurokrise.

Dr. Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW

Standpunkt: Aber die EU reagiert doch jetzt schon: durch das angekündigte Defizitverfahren.

Moritz Kraemer: Der erhobene Zeigefinger aus Brüssel? Dessen Wirkung wird überschaubar bleiben. Die Fristen beim Defizitverfahren werden bewusst sehr lang gesetzt. Und was die Sanktionen betrifft? Nun ja, das wird nicht der disziplinierende Impuls sein – der wird von den Märkten kommen.

Standpunkt: Wird er denn kommen, der disziplinierende Impuls?

Moritz Kraemer: Wenn weiter so gewurschtelt wird, rutschen wir tatsächlich in eine Eurokrise. Investoren stehen auf sichere Anleihen, idealerweise mit Triple-A-Rating. Wenn französische oder auch italienische Staatsanleihen plötzlich nicht mehr als sicher gelten, beginnt der Ausverkauf. Und der vollzieht sich nicht ruhig und geordnet, sondern eher panisch. Genau diese Panikverkäufe zwingt die EZB, den TPI zu nutzen und Anleihen, die niemand mehr will, aufzukaufen. Aus diesem Teufelskreislauf rauszukommen, ist ausgesprochen schwierig. Um so wichtiger wäre es, gar nicht erst hineinzugeraten. Sonst bricht – Worst Case – die gesamte Eurozone auseinander.