14.06.2022
Wenn die Fachkräfte fehlen
Corona? Nachschubprobleme? Inflation? Der Ukraine-Krieg? Alles schlimm. Doch Mittelständler treibt noch eine andere Sorge um: der massive Mangel an Fachkräften.
Die Corona-Krise, die Zinswende, die erhebliche Inflation, der Krieg in der Ukraine, Lieferkettenprobleme, verändertes Kundenverhalten und dann noch CO2-Auflagen: An Themen mangelt es nicht, wenn sich Markus Linha mit Geschäftskunden unterhält. Linha ist bei der BW-Bank mitverantwortlich für das Marktsegment Kleinere und Mittlere Unternehmen (kurz KMU) und im ständigen Dialog mit Einzelhändlern und Handwerkern, mit kleineren produzierenden Gewerbeunternehmen und mit Ärzten. Das wichtigste Thema ist allerdings ein anderes: Es herrscht ein massiver Mangel an Fachkräften, und zwar überall, quer durch alle Branchen.
Bei Mittelständlern gilt eigentlich als Motto: Wir unternehmen. Fürs Unterlassen sind andere zuständig. Trotzdem spürt auch Linha bei vielen Geschäftskunden mittlerweile einen gewissen Respekt vor den vielen großen Herausforderungen, die sie aktuell zu bewältigen haben. Vier Bereiche im kurzen Stimmungscheck:
Der Einzelhandel
Im April meldete der Einzelhandel einen veritablen Umsatzrückgang im Vergleich zum Vormonat: fast 8 Prozent. Alarmierend ist für Linha der Rückgang der Laufkundschaft in den Innenstädten und in den Geschäften des Einzelhandels um gut 30 Prozent im Vergleich zur Vor-Corona-Frequenz. Angesichts dieser Zahlen wird der Aufholprozess, um auf das Vor-Corona-Niveau zu kommen, ein sehr langer Weg. Drei Kernfaktoren veranschaulichen für BW-Bank-Experte Linha die Probleme des Einzelhandels:
1. In der gutbürgerlichen Mitte der Gesellschaft etabliert sich durch zuletzt inflationsbedingte Preissteigerungen ein geändertes Einkaufsverhalten. Beim Blick in den Kleiderschrank heißt es derzeit immer wieder: „Passt noch! Geht noch!“
2. Der Onlinehandel boomt nach wie vor. In diesem Jahr werden Zalando und Co. womöglich erstmals die 100-Milliarden-Euro-Umsatzgrenze in Deutschland sprengen (siehe auch Zahl des Monats).
3. Das größte Problem ist und bleibt der Fachkräftemangel. Weil sie kein Personal finden, müssen Einzelhändler notgedrungen ihre Öffnungszeiten kürzen. Damit reduziert sich aber einer ihrer wichtigsten Wettbewerbsvorteile: die persönliche Beratung des Kunden durch kompetente und erfahrene Einzelhandelskaufleute.
Das Handwerk
Die Auftragslage ist hervorragend. Konnte man in früheren Zeiten darauf setzen, dass der Installateur oder der Maler zumindest innerhalb der nächsten Wochen die Zeit findet, um zu streichen oder die Waschmaschine zu reparieren, so ist der zeitnahe fixe Termin heutzutage wie ein Sechser im Lotto.
Das zentrale Problem des Handwerks ist der Fachkräftemangel.
Rohstoffengpässe – vom Dachziegel über chipgebundene Steuereinheiten oder schlicht Holzbalken – erschweren die Arbeit des Handwerkers zudem. Wichtige Herausforderung für die Zukunft wie die Digitalisierung der Prozesse, um der künftigen Nachfrage Herr zu werden, bleiben oft auf der Stecke. „Früher“, sagt Linha, „musste ein Heizungsinstallateur eine Heizung einbauen können. Heute – und morgen noch viel mehr – geht es um Energiebilanzen von Häusern, um Energieeffizienz, um Photovoltaik-Anlagen für das Dach und um Erdwärme sowie Kraft-Wärme-Kopplung.“
„Zentrales Problem im Handwerk“, so Linha, „ist auch hier der Fachkräftemangel.“ Während sich die Problemstellungen an vielen Fronten über kurz oder lang wieder beruhigen dürften, „wird das Handwerk an den mangelnden Fachkräften über viele Jahre noch knabbern“. Kaum ein Sprinter fährt heutzutage noch ohne einen Aufkleber „Wir suchen Verstärkung!“ durch die Gegend.
Das produzierende Gewerbe
Die Lage ist oftmals so gut wie im Handwerk: volle Auftragsbücher, die teilweise weit ins nächste Jahr hineinreichen. Andererseits explodierende Energiekosten und erhebliche Preissteigerungen auf den Rohstoffmärkten, die den Unternehmern des produzierenden Gewerbes ihre eigentlich gute Laune vermiesen. Diese Kostensteigerung und die verringerte Planbarkeit haben, so Linha, „enorme Auswirkungen in den Bilanzen der Unternehmen“. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Während die Großkonzerne und international tätige Unternehmen noch eine gewisse Vorzugsbehandlung bei Vorproduktherstellern und in ihren Lieferketten genießen, stellen sich kleine Werkzeugmaschinenhersteller, Lackproduzenten oder Autozulieferer mittlerweile ganz hinten an. Neben allem anderen ist jedoch ein massives Problem auch dort: der Fachkräftemangel.
Die Ärzte
„Krank werden die Leute immer“ war früher ein geflügeltes Wort. Arzt als Beruf war krisenfest und führte zu einem gewissen Reichtum. Die Zeiten haben sich nach vielen Gesundheitsreformen und Reförmchen geändert. Arztpraxen folgen heutzutage den Regeln eines rigiden Wettbewerbs und einem damit verbundenen stringenten Kostenmanagement.
Der Arzt gibt seine Unabhängigkeit auf und ist nur noch angestellt in seiner Praxis.
Weiterhin wurde die Branche in den vergangenen Jahren von großen Investoren „entdeckt“. Einzelne Praxen werden gekauft und mittels einer Buy-and-Build-Strategie zu größeren Konglomeraten zusammengeschweißt. „Der Arzt hat damit seine Unabhängigkeit aufgegeben und ist nur noch angestellt in seiner Praxis“, konstatiert Linha. Diese Entwicklung ist nicht ohne Folgen für die Patienten-Arzt-Beziehung: „Patientinnen und Patienten sind heute Kunden, die auch einer betriebswirtschaftlichen Bewertung unterliegen.“ Eine weitere Konsequenz ist nicht mehr zu übersehen: Die Versorgung der Patienten auf dem Lande gestaltet sich immer schwieriger. Und neben dem Mangel an Landarztpraxen fehlen auch in den Praxen oft die qualifizierten Arzthelferinnen und Arzthelfer. Ein Engpass, der auch hier wieder zu reduzierten Öffnungszeiten führt.
Was zeigt unser kurzer Streifzug?
Angesichts der vollen Auftragsbücher sollte die Stimmung auch bei den kleinen und mittleren Unternehmen gut sein. Ist sie eigentlich auch. Bei der Finanzierung können Banker helfen. Wenn da nur nicht das drängende Problem von fehlenden Fachkräften wäre – und das über alle Branchen hinweg. Hier sind die Fachverbände und die regionalen und nationalen Akteure der Politik gefragt, mit einer intensiven Bildungs- und Ausbildungsoffensive gegenzusteuern.