09.09.2024
Die AfD ist ein Standortrisiko
Sachsen und Thüringen haben gewählt – mit problematischen Folgen für die Wirtschaft: Eine Einordnung von LBBW-Chefvolkswirt Dr. Moritz Kraemer.
Standpunkt: Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen kamen AfD und BSW zusammen auf jeweils mehr als 40 Prozent. Sind das die Wählerstimmen der wirtschaftlich Abgehängten?
Moritz Kraemer: Dazu müssten die Menschen in Sachsen und Thüringen wirtschaftlich abgehängt sein, und das ist eindeutig nicht der Fall. Wenn wir auf die Entwicklung in Ost und West in den vergangenen 20 Jahren schauen, stellen wir fest: Das Wachstum ist ungefähr gleich, im Osten sogar noch höher. Im selben Zeitraum ist die Arbeitsproduktivität im Osten doppelt so schnell gestiegen wie im Westen. Heruntergebrochen auf den einzelnen Menschen heißt das: Bei den Renten liegen Ost und West jetzt auf demselben Niveau, bei den Haushaltseinkommen sind sie auf einem guten Weg. Die Schulbildung im Osten ist vorbildlich, Sachsen ist ganz folgerichtig deutschlandweit der Vorreiter. Die je nach Schätzung bis zu 2 Billionen Euro, die in den Aufbau Ost investiert wurden, haben Wirkung gezeigt.
Standpunkt: Die Wirtschaft brummt also im Osten, und die Aussichten sind sogar noch besser?
Moritz Kraemer: In Deutschland brummt die Wirtschaft gerade nirgendwo. Der Osten liegt zwar weiterhin leicht hinten, entwickelt sich aber schneller. Was die wirtschaftlichen Rahmendaten angeht, gleichen sich Ost und West immer stärker an. Das merken die Menschen vor Ort ja selbst. Wenn man sie fragt, wie es ihnen geht, antworten die meisten: „Mir geht es gut.“ Wenn man sie fragt, wie es den Ostdeutschen geht, lautet die Antwort meist: „Schlecht.“
Standpunkt: Die Lage ist gefühlt schlechter als die Realität?
Moritz Kraemer: Die Schlussfolgerung, ökonomische Schwierigkeiten führen zu politischem Extremismus, springt jedenfalls zu kurz. Das belegen auch diverse wissenschaftliche Erhebungen. Ihre persönliche wirtschaftliche Lage war wahrscheinlich nur für wenige Menschen in Sachsen und Thüringen entscheidend dafür, wo sie ihr Kreuz gemacht haben.
Wirtschaftlich liegt der Osten zwar weiterhin leicht hinten, dafür entwickelt er sich aber schneller.
Standpunkt: Und trotzdem wurde eine autokratisch orientierte Partei gewählt, die simple Lösungen für komplexe Probleme anbietet.
Moritz Kraemer: Wer sich das AfD-Programm anschaut, sieht eine neoliberal orientierte Partei. Dem umworbenen „kleinen Mann“ würde es wirtschaftlich schlechter gehen, wenn die AfD dieses Programm umsetzen würde. Gewählt wird sie trotzdem.
Die AfD gefällt sich in der Rolle des Verteidigers des Mittelstands – aber dieser Mittelstand will gar nicht verteidigt werden. Er sieht sich stattdessen von der Rechtspartei bedroht.
Standpunkt: Die AfD fordert unter anderem den EU-Austritt. Anders als Großbritannien würden wir nicht nur die EU, sondern auch den Euro hinter uns lassen.
Moritz Kraemer: Exakt, das ist der erste Grund und wäre für Deutschland eine noch viel komplexere Herausforderung als es für Großbritannien war. Was geschieht mit all den Verträgen in Euro, mit den Ersparnissen der Bürger? Wird die absehbare Aufwertung der AfD-Mark unsere Wettbewerbsfähigkeit unterwandern? Ein hochriskantes Spiel.
Standpunkt: … und der zweite Grund?
Moritz Kraemer: Zweitens, und das wiegt noch schwerer, ist Deutschland viel handelsabhängiger als es Großbritannien vor dem Brexit je war. Der Euro hat Deutschlands beispiellosen Exportboom beflügelt. Die EU ist unser mit Abstand wichtigster Exportraum. Zudem würde Deutschland nach dem Dexit von allen von der EU abgeschlossenen Freihandelsabkommen ausgeschlossen. Nach Schätzungen des Instituts der deutschen Wirtschaft könnte damit ein Sechstel der deutschen Wirtschaftskraft verloren gehen. Die ökonomischen Konsequenzen für Wachstum und Beschäftigung wären niederschmetternd.
Standpunkt: Apropos Beschäftigung, welche Auswirkungen hat die Wahl auf die Zuwanderung von Fachkräften?
Moritz Kraemer: Das ist tatsächlich ein Problem. Es gibt diverse Leuchtturmprojekte im Osten Deutschlands, etwa die Chipfabriken in Dresden und Magdeburg, für die Fachkräfte gebraucht werden. Und da stellt sich sofort die Frage: Wer will da arbeiten? Viele Unternehmer vor Ort haben das Problem längst erkannt. Sie positionieren sich deutlich gegenüber der AfD, weil sie einen noch heftigeren Mangel an Fachkräften befürchten. Es ist schon paradox: Die AfD gefällt sich in der Rolle des Verteidigers des „kleinen Mannes“ und des Mittelstands – aber dieser Mittelstand will gar nicht verteidigt werden, er sieht sich stattdessen von der Rechtspartei bedroht. Die thüringische Landesvorsitzende des Verbands „Die Familienunternehmer“, Colette Boos-John, sagte im August: „Thüringen steht bei dieser Landtagswahl an der Abbruchkante zur wirtschaftlichen Katastrophe.“
Standpunkt: Hat Frau Boos-John recht, droht die wirtschaftliche Katastrophe?
Moritz Kraemer: Die AfD ist tatsächlich ein Standortrisiko, nicht nur für Thüringen. Wenn der Rechtsturbo eingelegt wird, werden genau die Menschen abgeschreckt, die am stärksten gebraucht werden. Genau deshalb positionieren sich die Unternehmen im Osten ja auch so wortstark – auch gegen erkennbares Murren in der eigenen Belegschaft. Die Geburtenrate in den ostdeutschen Bundesländern ist seit der Wiedervereinigung gesunken, daher gibt es weniger junge Menschen. Die Demografie verschärft damit das Fachkräfteproblem. Der Osten braucht zwingend Zuwanderung ...
Standpunkt: … sonst verliert der wirtschaftliche Aufholprozess des Ostens an Schwung?
Moritz Kraemer: Dieses Risiko ist sehr real. Schon jetzt dauert es im Osten Deutschlands deutlich länger, offene Stellen zu besetzen. Das belegen Statistiken ohne jeden Zweifel. Wenn sich das fortsetzt, könnte die wirtschaftliche Dynamik im Osten tatsächlich an Fahrt verlieren.
Der Osten braucht zwingend Zuwanderung.
Standpunkt: Was also tun, damit es weiter aufwärts geht im Osten?
Moritz Kraemer: Das ist keine wirtschaftliche, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe. Ich hoffe, dass die Wahlergebnisse als Weckruf gewertet werden.